Als ich noch an der Uni gearbeitet habe, hat mich ein Student mal gefragt, ob ich "Wurzeldeutsche" sei. Er, offensichtlich mit Migrationshintergrund, hatte eine grammatikalische Frage und war auf der Suche nach einem Experten oder einer Expertin. Ich war verblüfft. Ob ich Wurzeldeutsche bin, darüber hatte ich mir nie ernsthaft Gedanken gemacht. War mir nicht wichtig. Klar, meine Familie hat immer in dieser Gegend gewohnt. Andererseits, meine Mutter sieht gar nicht deutsch aus und wird immer gerne von Menschen mit italienischen oder türkischen Wurzeln in der jeweiligen Sprache angesprochen - und muss in breitestem Hessisch passen. Meine frühe Kindheit habe ich durch den Beruf meines Vaters in der Schweiz und in Österreich verbracht. Wie auch immer, ich habe mich nie sehr deutsch gefühlt, es war mir aber auch nicht unangenehm aus Deutschland zu kommen.
Doch gerade holt mich meine Geschichte ein und lässt mich meine Wurzeln ergründen. Ich habe gerade zwei Weltkriege vor meiner Haustür. Ich recherchiere für
die Stolpersteinaktion meines Wohnortes die Geschichte meiner Großtante Maria (der
Schwester meiner Großmutter väterlicherseits), Jahrgang 1905, die 1941 im Rahmen
der
Aktion T4 in
Hadamar ermordet wurde. Meine Oma hat immer erzählt,
dass sie die "Urne", eine Konservendose, vom Bahnhof abholen musste und
tagelang unter ihrem Bett versteckt hielt, weil sie nicht wusste, wie
sie sie ihrer Mutter zeigen sollte. Es war ein so unwürdiger Anblick,
ein Leben in einer Blechbüchse. Maria hatte als Kind eine
Hirnhautentzündung, wahrscheinlich als Nebenerkrankung von Masern, und
davon eine leichte geistige Behinderung. Ich habe mir viele Gedanken um
diese Kindheit gemacht, kam sie doch bereits 1919 nach
Mosbach/Baden in
eine Anstalt. Warum, das beschäftigt mich und hat mich so auch zum
ersten Weltkrieg geführt.
Schaut man sich die Rahmenbedingungen an, versteht man mehr. 1919 war
Maria 14. Vielleicht hatte man sie noch an der Volksschule im Ort
mitgeschleppt, aber mit Ende der Schulzeit musste man entscheiden, wie
es weitergeht. Es war die Zeit der Inflation, jemand wie Maria fand wohl
nirgends auch nur eine kleine Hilfsarbeit. Ihre Mutter (die Maria Anna
hieß, sehr verwirrend bei der Recherche) hatte 1902 den Maurer Friedrich
Georg K., genannt Heinrich (sie machen es einem nicht leicht)
geheiratet und vier Kinder bekommen: Katharina (Käthe) 1903, Anna Maria
(Maria) 1905, Bernhard 1907 und Franziska (meine Oma, die Mutter meines
Vaters) 1909. Vier Kinder in sechs Jahren - auch ich kann nur ahnen, wie
ihr Leben aussah. Dennoch: zu Beginn der Ehe waren noch goldene Zeiten, die Wirtschaft
brummte, man schaute wohl optimistisch in die Zukunft. Dann kam der Sommer 1914, in Sarajevo fielen Schüsse und mein
Urgroßvater Heinrich wurde direkt im August eingezogen. Er fiel bereits am
22. Januar 1915. Beruflich erstelle ich gerade
eine Broschüre zum ersten Weltkrieg, so beschäftigt mich das Thema
doppelt. Es gibt eine sehr
eindrückliche Doku, die ein gutes Bild von der Zeit und den Stimmungen vermittelt. Ich habe versucht einen Feldpostbrief eines
Kammeraden von Heinrich zu entziffern. Ortsangabe Schützengraben bei
???, März 1915. Darin versucht er der Witwe Maria zu erklären, warum bei
dem Toten kein Geld mehr war, sie hatte in einem Brief danach
gefragt. Die Geldnot hat wohl alles andere verdeckt.
Zurück zu Hadamar und Maria: Perfide ist, dass auch viele traumatisierte
Kriegsveteranen aus dem 1. Weltkrieg sowie Wehrmachtssoldaten und
SS-Männer mit psychichen Problemen dort umkamen. Maria war also 14,
nicht mehr schulpflichtig, theoretisch arbeitsfähig und somit auch ohne Anspruch auf Waisenrente.
Die Witwenrente ihrer Mutter orientierte sich am Dienstgrad des Ehemanns
und war sehr mager, ich habe noch die Originalunterlagen. Wenn man die
Beträge in einen Kaufkraftrechner eingibt, kann man die Not erahnen.
Maria bekam einen Vormund (vielleicht war die Gesetzgebung so, keine Ahnung) und kam
nach Mosbach, die Einrichtung gibt es heute noch. Ich stelle mir vor,
dass es ihr nach den Inflationsjahren den Umständen entsprechend gut
ging. Es gibt Fotos, die eine fröhliche junge Frau zeigen. Doch sieht
man ihr das Anstaltsleben an, man sieht ihr erstmals an, das mit ihr
etwas nicht stimmt. Ich habe eine Anfrage bezüglich ihrer
Krankenakte laufen, mal sehen. Ebenso habe ich einen Antrag beim Archiv
in Hadamar gestellt.
Das alles hätte sich deutlich leichter recherchieren lassen, wenn ich
früher damit angefangen hätte. Nun leben fast alle, die sich erinnern
könnten, nicht mehr. So bin ich auf entferntere Quellen angewiesen.
Küzlich war ich im Altenheim und habe mich mit der Schwester eines guten
Freundes meines Vaters unterhalten. Sie ist Jahrgang 1918 und kannte durch ihre
ältere Schwester meine Oma und durch ihren jüngeren Bruder meinen Vater.
Die Dame ist etwas dement hat aber ein unglaubliches Gedächtnis, was die
Vergangenheit angeht, besonders die Kindheit und Jugend sind doch wohl
sehr prägende Zeitabschnitte. Sie konnte mir mit Maria nicht viel
weiterhelfen, nichts was ich nicht schon wusste. Wohl hat sie aber ein
paar Lücken in der Scheidungsgeschichte meiner Oma gefüllt, erklärt,
warum sie eine Zeit lang 20 km von hier entfernt gelebt hat, wo auch mein Vater
geboren ist, bestätigt, das meine Oma nach dem Krieg einen schweren Stand hatte. Sie hat mir die Gerüchte bekräftigt, dass meine Oma eine
gefragte Engelmacherin war und dass man munkelte, dass ihr drittes Kind
nicht die leibliche Tochter meines Großvaters war, sondern - so das
Gerücht - eines französischen Zwangsarbeiters. Mein Großvater Herrmann
war zu der Zeit als Wehrmachtssoldat im Sanitätsdienst in Frankreich
stationiert... Das würde bedeuten, dass meine Oma drei Kinder aus drei Beziehungen hatte. Eine Tochter aus erster Ehe, einen Sohn (meinen Vater) aus zweiter Ehe und eine Tochter aus einer außerehelichen Beziehung in Kriegszeiten. Nichts was ich prinzipiell verwerflich finde, aber auch nicht unbedingt das, was man von seiner Oma erwartet.
Das alles hatte mein Vater mir zwar bereits auf dem Sterbebett gesagt, ich hatte
ihn aber schlicht nicht ganz ernst genommen dank all der Morphine.
Und die Familiengeschichte meiner Mutter? Ist bisher erfolgreich
verdrängt. Ihr Vater, der Schreiner Paul H., war bei der SS in der
Region und in Nordhessen im Einsatz. Was er ganau gemacht hat, weiß
meine Mutter nicht. Will sie gar nicht wissen. Und die Geschichte mit
Hadamar macht es auch nicht leichter, ihr etwas zu entlocken. Denn auch
dort waren SS-Leute im Einsatz. Ihr Vater war jedenfalls bis 1947 in
einem Internierungslager der Amerikaner bei Darmstadt. Ich habe ihn nie
kennengelernt, er ist einige Jahre vor meiner Geburt gestorben. Seine
Frau Emma, die Mutter meiner Mutter, wurde nie meine Oma - gefühlsmäßig
-, weil meine Mutter irgendwann zwischen Tod des Vaters und meiner
Geburt den Kontakt zu ihr komplett abgebrochen hat. Wir haben uns
zwei-/dreimal bewusst und einige Male zufällig getroffen, es hat nie
funktioniert. Die weinerliche alte Frau, die über meine Eltern am
schimpfen war, habe ich nie mit der starken, schönen Persönlichkeit von
Familienfotos zusammenbekommen. Ich war auf ihrer Beerdigung als ich mit
den Zwillingen schwanger war.
Momentan verfolgen mich diese Wurzeln bis in den Schlaf.
Ich bin froh, dass
ich es mal aufschreiben konnte.